Text: Jaana Kistner, Foto: André Wunstorf
Prof’in Dr. Claude Draude leitet das Fachgebiet Gender/Diversity in Informatiksystemen, welches zwei der zentralen Forschungsschwerpunkte der Universität Kassel miteinander vereint: die Kultur- und Geschlechterforschung sowie die sozialnützliche Informationstechnik-Gestaltung.
Frau Draude, welche Aspekte umfassen Gender und Diversity?
Geschlecht- und Diversitäts-Aspekte erlauben es uns, die menschliche Vielfalt in den Blick zu nehmen. In der Informationstechnik-Entwicklung hilft uns das zum Beispiel dabei ein realistisches Bild von Nutzenden zu entwerfen, Anforderungen und Bedarfe umfassend zu ermitteln oder Usability-Tests zu erweitern. Wir sprechen von Gender und Diversity um verschiedene soziale Kategorien sichtbar zu machen und in die Informationstechnik-Gestaltung einbeziehen zu können. Dies umfasst u.a. Geschlecht, Alter, Ethnizität/kultureller Hintergrund, sozioökonomischer Status, Religion, körperliche Verfassung. Wir betrachten in unserer Forschung aber nicht nur menschliche Diversität, sondern beziehen auch unterschiedliche Kontexte (Situationen und Umgebungen) mit ein.
Können Sie uns konkrete Beispiele aus Ihrer Forschungsarbeit nennen?
In einem Forschungsprojekt führen wir z.B. Nutzerstudien im Bereich Smart Home Technologien durch. Hier schauen wir explizit auf Personengruppen, die üblicherweise nicht im Fokus stehen, wie alleinlebende Seniorinnen oder alleinerziehende Eltern. Methodisch arbeiten wir hier mit Interview- und Feldstudien bis hin zur gemeinschaftlichen Entwicklung von Prototypen. D.h. wir erweitern sowohl den Kreis potentieller Nutzender, die möglichen Anwendungsszenarien als auch die Methoden der Technik- und Produktentwicklung.
Ein anderes Projekt beschäftigt sich mit sozialen Ungleichheiten und möglichen Diskriminierungen auf dem Gebiet des Maschinellen Lernens. Hier gilt es z.B. die Datenqualität zu verbessern oder auch Transparenz und Erklärbarkeit automatisierter Entscheidungsprozesse für die breitere Bevölkerung herzustellen.
Wo genau besteht der Nachholbedarf in Informatiksystemen?
Nachholbedarf besteht darin, soziale Welt und technische Systeme in ihrer Verschränkung zu verstehen und entsprechend zu entwickeln. Wir alle kennen mittlerweile Beispiele, die zeigen, dass Technologien entweder nicht für alle Menschen gleich gut oder überhaupt funktionieren, dass sie demokratischen gesellschaftlichen Werten und Normen nicht entsprechen oder soziale Ungleichheiten verstärken. Prominente problematische Beispiele reichen von der Bilderkennung (Menschen mit dunkler Hautfarbe werden nicht erkannt – oder als „Gorillas“ eingeordnet…) über Übersetzungssoftware (veraltete Datenbestände führen zu Falschübersetzungen, z.B. was Geschlecht angeht) hin zur Ermittlung der Rückfallquoten von Straftätern (US-amerikanisches Beispiel zur Diskriminierung von Menschen mit dunkler Hautfarbe).
Wo sehen Sie Potentiale und Marktlücken für Gründungen in dem Bereich sozialverantwortliche/inklusive Informatikentwicklung?
Großes Potential sehe ich in der Übersetzungs- und Vermittlungsarbeit zwischen verschiedenen Stakeholdern, Wissens- und Anwendungsgebieten und technischer Entwicklung. Hierzu gehört der Ausbau von Domänenwissen und das Anerkennen fachfremder Expertise, aber auch die Entwicklung neuer Methoden und Werkzeuge. Geschlechts- und Diversitätsaspekte nicht nur auf der Teilhabeebene zu diskutieren (Stichwort: Diversity in Teams), sondern in der Informationstechnik-Gestaltung und Produktentwicklung selbst angemessen zu berücksichtigen, halte ich für eine Marktlücke. Und diese wird sich, je weiter technische Entwicklungen unsere Arbeit und Freizeit bestimmen, eher noch vergrößern.
Wieso ist Diversity gerade für den Bereich Digitalisierung so wichtig? Wieso können Startups von diversen Teams profitieren?
Um Bedarfe und Zielgruppen realistisch zu erfassen und Technik zu entwickeln, die akzeptiert wird und funktioniert, kann ich nicht mit einem Standard-Nutzer-Modell arbeiten. Ich muss menschliche Vielfalt und Kontext-Vielfalt berücksichtigen. Eine solche Berücksichtigung von Vielfaltsaspekten nützt am Ende allen. Wir alle kennen Maßnahmen, die eigentlich für eine bestimmte Zielgruppe gedacht sind, aber in der Nutzung weit mehr Menschen den Alltag erleichtern: Rollstuhlrampen oder Aufzüge, die Gebäude barrierefreier gestalten, helfen auch Menschen mit Kinderwagen oder bei Warenanlieferungen; Untertitel im Fernsehen oder bei Videos, die für Menschen mit Hörschädigungen gedacht sind, helfen Informationen in lauten Umgebungen zu vermitteln oder unterstützen beim Erlernen von Fremdsprachen.
Die Digitalisierung stellt uns aber auch als Gesellschaft vor neue Herausforderungen, wenn es z.B. um die Zukunft der Arbeit geht oder um die Wahrung demokratischer Beteiligungsstrukturen oder den Bereich der Bildung. Die Gender- und Diversity-Forschung bringt hier Expertise mit, um digitaler Spaltung und der Verstärkung von Ungleichheiten entgegenzuwirken. Informatik gestaltet nicht nur technische Systeme, sondern Welt. Dieser Verantwortung müssen sich Wissenschaft und Industrie gleichermaßen stellen.
Dass Unternehmen von einer vielfältigen Zusammensetzung ihrer Teams profitieren können, belegen mittlerweile zahlreiche Studien. Ist die Arbeitskultur entsprechend, können heterogene Teams (versch. Geschlechter, kulturelle Hintergründe, körperliche Verfassung) zu innovativeren und inklusiveren Lösungen gelangen. Wichtig ist aber, dass diese Vielfalt auch vom Unternehmen getragen und gestützt wird.
Haben Sie Beispiele für erfolgreiche Startups, für die Diversity ein wichtiger Erfolgsfaktor ist?
Interessant finde ich Gründungen, wie die US-amerikanische Plattform „GovLia“ von Shakeia Kegler, die staatliche Aufträge an kleinere Firmen vermittelt („GovLia ist where small diverse businesses meet governments“). Beeindruckend ist auch Jessica O. Matthews, die als Erfinderin und Unternehmerin u.a. mit „Uncharted Power“ technologische Infrastrukturlösungen für die Energieversorgung bereitstellen will.
Der Beitrag ist bereits im Science Park Newsletter vom Oktober 2019 erschienen.