Leon Thurner hatte nie vor, ein Startup zu gründen. Aber als sich die Möglichkeit ergab, faszinierte ihn die Aussicht, eigene unternehmerische Entscheidungen zu treffen. Im Laufe seiner Promotion hatte er festgestellt, dass es ihm leichtfiel, sehr intensiv und lange zu arbeiten, wenn ihm die Arbeit Spaß macht. Das Wichtigste für ihn war, die Eigenmotivation bei der Arbeit zu spüren. Dem Elektrotechniker war klar, dass er als Angestellter in einer großen Organisation auf die Entscheidungen anderer angewiesen wäre. Als Gründer kann er Entscheidungen schnell und unkompliziert treffen und eigenverantwortlich handeln.
Leon Thurner hat einen Bachelorabschluss als Wirtschaftsingenieur mit Schwerpunkt Elektrotechnik an der Universität Kaiserslautern gemacht und kam dann zum Master im Studiengang „Regenerative Energietechnik“ an die Universität Kassel. Später promovierte er im Fachgebiet „Energiemanagement und Betrieb elektrischer Netze (e²n)“ bei Professor Martin Braun.
Ein erster Schritt Richtung Selbständigkeit ergab sich 2018, als Leon Thurner für das Postdoc UNIKAT-Fellowship ausgewählt wurde und sich während des Stipendiums mit Möglichkeiten des Transfers seiner wissenschaftlichen Themen auseinandersetze. Weil sich jedoch kein tragfähiges Geschäftskonzept herauskristallisiert hatte und er sich als Einzelkämpfer noch nicht gut aufgestellt fühlte, startete er anschließend einen neuen Job beim Fraunhofer-Institut. Dort nahm er am „Startup Venture Programm“ teil und konnte neben eigenen Ideen auch zwei weitere Teammitglieder gewinnen. Coachings während des Fellowships, Treffen mit den Mitgliedern des Unternehmer Rats der Universität Kassel und das Akzeleratorprogramm „AHEAD“ des Fraunhofer Instituts halfen, die Idee zu einem tragfähigen Geschäftsmodell weiter zu entwickeln.
Im Januar 2022 war es soweit: Leon Thurner, Jannis Kupka und Simon Drauz-Mauel entschlossen sich, die Idee einer Simulationssoftware für Strombetreiber umzusetzen und mit ihrem neugegründeten Startup „retoflow“ in den Science Park zu ziehen. „Wir haben uns gesagt, wir setzen jetzt alles auf eine Karte. Entweder wir machen es jetzt, ober wir lassen es ganz“, beschreibt der promovierte Elektrotechniker die Entscheidung. Während Leon und Jannis ihre Jobs kündigten, entschied Simon, erst seine Promotion in Kassel abzuschließen und danach mit einzusteigen. Die drei gründeten eine UG (Unternehmergesellschaft), die sie inzwischen in eine GmbH umgewandelt haben.
Der Algorithmus des Startups unterstützt Planer und Stromnetzbetreiber bei der Berechnung von Strömen und Spannungen. Das Team führt die Einzeldaten, die in verschiedenen Systemen vorliegen, zusammen und verschneidet die Daten so, dass ein digitaler Zwilling des bestehenden Netzes entsteht: Dieser digitale Zwilling bildet neben dem normalen Verbrauchszähler von Haushalten auch alle anderen Anlagen ab, die ans elektrische Netz angeschlossen sind, wie beispielsweise E-KFZ Ladesäulen, Wärmepumpen oder Photovoltaikanlagen. So kann auch in Stadtvierteln mit vielen Photovoltaik-Anlagen und Ladesäulen schnell überprüft werden, ob der Trafo ausreichend dimensioniert ist oder ob die Leitungskapazität ausgebaut werden muss. Wenn in Zukunft Mobilität, Heizen mit Strom und der normale Stromverbrauch eine Erweiterung des Stromnetzes erforderlich machen, haben Netzbetreiber ein gutes Planungs-Instrument an der Hand. Aktuell nutzen bereits der Verteilnetzbetreiber Netze BW sowie die Stadtwerke Fürstenfeldbruck und Braunschweig das Tool.
„Dadurch, dass wir ein digitales Modell des gesamten Netzes erstellen, kann die Installation weiterer Ladesäulen auf Knopfdruck erfolgen und die Planer entlasten“, beschreibt Leon Thurner den Nutzen für Netzbetreiber. „retoflow kann außerdem auch simulieren, wie sich das Netz in 20 Jahren entwickelt.“ Dabei hat die Komplexität stark zugenommen, weil es neben den großen Kraftwerken eine Vielzahl weiterer Erzeuger gibt. Auch die Anforderungen der Verbraucher sind gestiegen: Neue PV-Anlagen oder Ladesäulen für Elektrofahrzeuge werden stark nachgefragt. „Netzplaner müssen Netzpläne nicht mehr händisch erstellen, sondern können mithilfe unseres Tools langfristig planen und verschiedene Versionen und Szenarien auf Knopfdruck durchspielen“, erläutert Leon Thurner „denn die Netzbetreiber müssen den Ausbau der Stromnetze vorausschauend planen, damit in Zukunft die Kapazität der Kabel und Transformatoren auch für alle zusätzliche E-KFZ Ladesäulen, PV-Anlagen, Windkraftanlagen und Wärmepumpen ausreicht.“
Das Team wächst rasant, sodass die Gründer planen, bald weitere Büros anzumieten, denn die fünf Arbeitsplätze werden knapp. Aktuell wechselt sich das Team im Büro ab und arbeitet hybrid, je nach Erfordernis. Auch Leon Thurner nutzt die Möglichkeiten des Mobilen Arbeitens, um ungestört Telefonbesprechungen zu führen und konzentriert zu arbeiten. Um alle informiert zu halten, trifft sich das Team morgens im Teams-Channel, um Aufgaben zu verteilen, abzustimmen und zu diskutieren.
Als nächste Meilensteine arbeitet retoflow daran, nicht nur Stromnetze zu simulieren, sondern das gesamte Energienetz abzubilden. Dazu gehören neben den Stromnetzen auch Gas- und Wärmenetze. „Wir möchten gekoppelte Energiesysteme für die Planer darstellen und den Netzbetreibern so ein Vorschlagssystem für die komplexen Entscheidungen bei der Energienetzplanung zur Verfügung stellen“, formuliert Leon Thurner die Ziele für die nächsten Jahre.